What you see is what you get.

Neulich führte ich ein langes Telefonat mit einer Freundin. Sie ist Fotografin, so wie ich – und sie klang müde. Nicht körperlich, sondern auf dieser tieferen Frequenz, wo die Gedanken wohnen. Es ging um Bilder, die sich zu ähneln beginnen, um Porträts, die weniger erzählen als früher. Um das Gefühl, sich im Kreis zu drehen. Und um die Frage, wie man weiterkommt, ohne sich selbst zu verlieren.

Es ist ein Thema, das viele Fotografen, die ich kenne beschäftigt. Denn irgendwann, wenn die Technik sitzt und das Auge geschult ist, beginnt ein anderer Kampf: der um Relevanz. Wie schafft man etwas Neues, ohne die eigene Handschrift zu verwässern? Wie bleibt man zeitgemäß, ohne sich dem Zeitgeist auszuliefern? Und wie begegnet man der wachsenden Distanz, die sich zunehmend zwischen Fotograf und Motiv schiebt, wenn aus Neugier Routine wird?

Ich erinnere mich noch gut an meine frühe Phase in der Portraitfotografie. Als ich begann, Menschen zu fotografieren, war es wie eine Entdeckung. Nicht nur der Gesichter – sondern der Begegnung selbst. Da war eine besondere Energie im Raum, ein unsichtbarer Strom, der von einem Blick ausging oder von der Art, wie jemand die Schultern hielt. Jedes Shooting war ein kleines Abenteuer. Unvorhersehbar. Lebendig. Und ja – auf eine schöne Art aufregend. Ich wollte gar nicht mehr, dass es aufhört. Diese Energie suche ich heute wieder. Und frage mich, ob sie verschwunden ist oder ob ich verlernt habe, sie zuzulassen.

Vielleicht ist es das, was Anselm Kiefer meinte, als er in einem Interview sagte, dass jeder Künstler sich in einer ständigen Bewegung zwischen Herkunft und Aufbruch befindet. Wer zu sehr bei sich bleibt, wird dekorativ. Wer sich zu sehr löst, verliert seine Tiefe. Das Dilemma ist bekannt: Bleibt man dem eigenen Publikum treu, kann das auf Kosten der Weiterentwicklung gehen. Sucht man das Neue, riskiert man, nicht mehr verstanden zu werden. Kiefer hat versucht, beides zu vereinen – durch Material, durch Maßstab, durch Mythos. Was also tun wir Fotograf:innen, wenn das Format vorgegeben ist, das Setting klar und der Blick zu oft eingeübt?

Große Porträtfotografen – Richard Avedon, Diane Arbus, Peter Lindbergh – hatten ihre Methoden, diesen Kreis zu durchbrechen. Manche suchten radikal neue Gesichter, andere reisten dorthin, wo sie niemand kannte. Wieder andere wechselten die Lichtführung oder die Brennweite, nicht weil es technisch nötig war, sondern weil sie ihr eigenes Sehen irritieren wollten. Es ging nie um Veränderung um der Veränderung willen. Es ging darum, die eigene Wahrnehmung wieder zu schärfen – und das Staunen zurückzuerobern.

Und so versucht man es selbst immer wieder. Eben noch hat man Porträts fotografiert, schon findet man sich in einem Nude-Shooting wieder. Jahre fotografiert man nur in Schwarz-Weiß, weil man glaubt, das sei die reinste Form – und beginnt plötzlich, sich in Farbe zu verlieren. Nicht weil man einem Trend folgen will, sondern weil es sich auf einmal richtig anfühlt.
Gleichzeitig aber wachsen die kleinen Widerstände. Die Mühen, neue Gesichter zu finden – unverbrauchte, unberührte – geraten zu einem zähen Spiel: Schreiben, austauschen, telefonieren. Dann wochenlange Funkstille. Kein Termin. Oder er kommt zustande, aber zu spät – zu spät für den Moment, der was Besonderes hätte sein können. Und auch das kommt vor: Dass man sich schon nicht mehr auf das Shooting freut, weil das Gesicht inzwischen bei fünf anderen war. Fotografen, die das Bild wiederholen, das sie seit Jahren machen – nur mit einer neuen Oberfläche.
Und dann verliert man plötzlich die Lust. Nicht aus Arroganz. Sondern weil es sich nicht mehr nach Begegnung anfühlt, sondern nach Reproduktion.
Kennen das andere auch? Gehört das dazu?
Denn im normalen Leben bin ich nicht so.

Und doch ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich ein Shooting beginne wie ein Arzt eine Sprechstunde. Präzise, höflich, effizient – aber mit einem emotionalen Abstand, der mir früher fremd war. Vielleicht ist das eine Form von Abstumpfung. Vielleicht ist es Schutz. Vielleicht auch nur der Preis eines Berufs, der aus Begegnungen besteht. Denn jedes Gesicht, das man nicht ganz neu sieht, wird zur Variation eines alten Bildes.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich immer wieder zur M zurückkehre. Sie lässt kein hastiges Arbeiten zu. Sie verlangt Aufmerksamkeit, ein bewusstes Sehen – fast so, als würde man die Welt durch ein entschleunigtes Medium betrachten. Eine Rückkehr zur Essenz des Porträts.
Der Blick durch den Messsucher – oder durch den Visoflex, wenn ich keine Lust habe, meine Brille aufzusetzen – bleibt reduziert: keine eingeblendeten Linien, keine blinkenden Zahlen, keine animierten Histogramme.
What you see is what you get, heißt es irgendwo. Und manchmal ist genau das genug.

Und dann gibt es diese seltenen Augenblicke. Wenn sich im Gesicht eines Menschen etwas öffnet, wenn der Ausdruck plötzlich brüchig wird oder ganz still in meinem Kopf. Wenn alles kurz stimmt – das Licht, die Haltung, der Blick. Diese Momente erinnern mich daran, warum ich einmal damit angefangen habe. Und dass das, was wir suchen, vielleicht nie ganz verloren geht. Sondern nur gelegentlich neu gefunden werden will.

Was hilft? Die Suche, denke ich. Nach neuen Menschen, nach ungewohnten Perspektiven, nach einer Unruhe im eigenen System. Vielleicht ist es das, was Künstler letztlich eint: nicht der Stil, sondern der Drang, dieser Antrieb, immer wieder in Bewegung zu geraten. Und das Wissen, dass das Wiedererkennbarste an der eigenen Arbeit oft nicht das Sichtbare ist – sondern das Unsichtbare. Die Haltung. Die Zweifel. Die Zeit, die man sich nimmt, bevor man den Auslöser drückt.

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Das Bewegte Bild