Mein Bücherregal. Folge 1: The Last Sitting von Bert Stern
Bücher sind für mich deutlich mehr als Inspiration. Sie sind Teil der Grundlage dafür, wie ich Fotografie denken kann. Sie zeigen mir, wie man mit Menschen arbeitet, wie man Atmosphären einfängt, wie man Geschichten erzählt. Ich muss das einfach in dieser Form vor mir liegen haben, es durchblättern und lange ansehen können. In meinen Vorträgen erwähne ich sie regelmäßig. Und in meinen Workshops schleppe ich immer wieder einen großen Stapel mit – lege sie den Teilnehmern in die Hand, damit sie sehen, wovon ich spreche, wenn ich von (meiner) Fotografie erzähle. Jedes Mal merke ich, wie stark die Reaktionen sind. Es sagt mir auch etwas, wenn jemand dem Ganzen nichts abgewinnen kann.
Manche Bildbände haben mir so einige Fenster geöffnet, neue Wege gezeigt oder mir Mut gemacht, anders zu denken. Andere haben mich einfach in meiner Idee bestätigt. Ich bin kein Sammler im klassischen Sinne, aber hier steht ein großes Regal, voll mit Büchern. Und verstreut über unsere Wohnung , stehen sie stapelweise. Manche haben beachtlichen Wert erreicht. Es sind Werke von weltberühmten Fotograf:innen bis hin zu kleinen Auflagen von Künstlern, die eher regional oder landesweit in Amateurfotografenkreisen kennt. Von Lindbergh und Avedon über Purienne oder Kate Bellm bis zu einer selbstaufgelegten Polaroid-Sammlung einer Fotografin hier um die Ecke. Ich sammele, weil sie einfach gerne ansehe.
Darum möchte ich auch hier im Blog über solche Bände schreiben. Keine klassischen Rezensionen – das können andere besser. Sondern Eindrücke und Gedanken, die beim Blättern entstehen und die in meine fotografische Arbeit einfliessen. So wie bei The Last Sitting von Bert Stern. Bereit?
Worum es geht
The Last Sitting ist kein gewöhnlicher Bildband. Er versammelt die letzten Aufnahmen von Marilyn Monroe – gemacht von Bert Stern im Juni 1962. Einige Tage im Bel-Air Hotel in Los Angeles, über 2.700 Negative, aus denen die Vogue am Ende gerade einmal zwanzig Bilder druckte. Das erste und einzige mal zur Lebzeiten dieser Ikone. Die Ausgabe erschien in der Woche, in der die Nachricht von Marilyns Tod um die Welt ging.
Bert Stern – vom Botenjungen zum „Original Mad Man“ der Fotografie
Stern kam 1929 in Brooklyn zur Welt, Sohn jüdischer Einwanderer und hatte nie eine klassische Fotoausbildung. Er begann als Botenjunge beim Look Magazine, wurde später Art Director in einer Werbeagentur und brachte sich das Fotografieren selbst bei.
Während seiner Armeezeit in Japan Anfang der 1950er-Jahre machte er erste Bilder und lernte dort etwas über Technik, wie beispielsweise Beleuchtung. 1953 kam sein Durchbruch: die berühmte Smirnoff-Werbung, eine Flasche vor den Pyramiden von Gizeh. Claim: „Smirnoff leaves you breathless.“ Das war nicht einfach Werbung, sondern er machte ein Bild, das in der Kombination mit dem Slogan auf eine neue Art eine Stimmung transportierte. Bemerkenswert auch deshalb, weil russischer Wodka im Kalten Krieg ein Risiko war. Der Erfolg war riesig, die Verkäufe explodierten und Stern wurde über Nacht zu einem der gefragtesten Fotografen seiner Generation – ein „Original Mad Man“.
Ab Mitte der 1950er-Jahre arbeitete er regelmäßig für Vogue und Harper’s Bazaar. Sein Stil war elegant, aber nie starr. Vielleicht, weil er Autodidakt war, floss eine eigene Psychologie in seine Bilder. Er dachte in Bewegungen und suchte das Standbild darin. Das gab seinen Bildern ein gewisses Etwas.
1955 sah er Marilyn Monroe zum ersten Mal – auf einer Party des Actors Studio. Noch war er am Anfang, als ein Staunender unter Vielen. „Wie eine Motte das Licht einer Kerze sucht“, schrieb er später. Sie war die Göttin, er der Anfänger. David und Goliath.
Marilyn Monroe – Mythos
Marilyn Monroe – den Namen kennt man, aber viele der jüngeren Generation heute, wissen nur vage, wer sie wirklich war. 1926 als Norma Jeane Mortenson in Los Angeles geboren, ohne Vater, mit einer psychisch kranken Mutter, wuchs sie in Pflegefamilien und Heimen auf.
Sie begann als Fabrikarbeiterin zu arbeiten, wurde durch einen Armeefotografen entdeckt und bald Model. 1946 unterschrieb sie ihren ersten Filmvertrag. Aus Norma Jeane wurde Schritt für Schritt Marilyn Monroe – blondiert, mit neuer Stimme, neuem Namen. Zwei Leben in einem Körper.
In den 1950er-Jahren wurde sie der größte weibliche Star der Welt. Filme wie Gentlemen Prefer Blondes oder How to Marry a Millionaire machten sie zum Sexsymbol. Aber der Hype kam nicht allein von Hollywood. Es waren die Fotos von ihr, die ein neues Bild prägten: sinnlich und gleichzeitig verletzlich. Ikone und Girl next door zugleich.
Genau dieser Widerspruch war ihr Kern. Marilyn stand für Jugend, Freiheit und Glamour – aber auch für Einsamkeit, Zweifel und die Abgründe des Ruhms. Sie war Projektion und Realität in einer Person. Sie erlebte einen Ruhm (und auf eine Weise), der sich mit heutigen Maßstäben kaum vergleichen lässt.
Meine persönliche Beziehung zu Marilyn
Für mich war sie nie das Sexsymbol. Dafür war ich zu einer anderen Zeit jung. Für mich war sie – zusammen mit James Dean – ein Symbol für Jugend und Stil. Für etwas Geheimnisvolles, Zeitloses. Ihre Filme fand ich als Jugendlicher kitschig, Lichtjahre entfernt von meiner Realität. Erst später verstand ich, was darunter lag und erfuhr mehr über sie.
Es waren die Bilder von Eve Arnold von ihr, die ich besonders gemocht habe – weil sie Marilyn als Mensch zeigen, nicht als Mythos. Mein erster Band war, glaube ich, Marilyn by Magnum. Und doch: Im Last Sitting gibt es zwei Bilder, die für mich zu den größten Portraits überhaupt gehören. Eins zeigt sie schlafend, entspannt, fast wehrlos (Was vielleicht nicht einmal als Porträt im eigentlichen Sinne gilt). Das andere: im schwarzen, rückenfreien Kleid, seitlich ins Licht gedreht, die Haare streng und sie verletzlich zugleich. Diese beiden Bilder gehören für mich zu meinen ewigen Favoriten.
Der Ort der Geschichte – das Bel Air Hotel
Das Shooting fand nicht in einem Studio statt, sondern im Bel-Air Hotel. 1946 eröffnet, schnell Rückzugsort für Hollywoodgrößen wie Grace Kelly, Elizabeth Taylor, Judy Garland. Ein Ort der Ruhe, verborgen hinter Palmen und Gärten.
Für Stern war es perfekt: neutral, diskret, aber voller Geschichte. Marilyn kannte es, sie zog sich dorthin zurück, wenn ihr Leben aus den Fugen geriet – nach gescheiterten Ehen, in Krisen. Das Bel-Air war berühmt für seine Diskretion und professionell im Umgang mit Berühmtheiten.
Selbstportrait Monroe und Stern
Es gibt es bis heute. 2021 zeigte man die Last Sitting-Bilder dort wieder, zum 75-jährigen Jubiläum. Wer heute dort sitzt – an der Bar oder draußen im Garten mit den weißen Bungalows und roten Dächern – spürt vielleicht etwas von dieser Vergangenheit. Eine Oase inmitten von Los Angeles im Stile spanisch-mediterraner Gestaltung.
Drei und ein Tag – Die Sittings
Eigentlich begann alles schon ein paar Wochen vor dem berühmten „Last Sitting“. Stern traute sich endlich sie für ein Shooting zu kontaktieren; Zuvor hatte er den Auftrag der Vogue erhalten, sie zu fotografieren. Marilyn sagte zu und kam zu einem ersten Termin alleine. Ohne Stylisten, ohne Begleitung. Nur sie, Stern und die Kamera. Die Shootings gingen manchmal bis weit durch die Nacht in den nächsten Morgen. Die Aufbauten waren schlicht. Paperbacks und Blitzleuchten. Mir persönlich (und ich glaube auch Stern selbst) hätten das Fotografieren mit Tageslicht vorgezogen. Die beiden näherten sich einander an und kamen auch bald in einen Flow bei dem Monroe sich bereit erklärte sich auszuziehen. Sie rollte ihre Hose halb herunter, legte sich ein Tuch über den Oberkörper. So entstand das erste Nacktbild – roh, beiläufig, ohne Mythos.
Stern erreichte sein “Tagesziel”. Er wollte sie nackt und ohne diese zweite Haut die sie sonst für den Hollywood Glamour trug. Er beschreibt in seinem Text wie sehr er sie zugleich verehrte und begehrte. Aus heutiger Sicht klingen manche Passagen sexistisch. Er war auch frisch verheiratet, eine Frau und ein Baby Zuhause auf ihn wartend. Aber es ging ihm wohl tatsächlich darum sie als Norma Jean zu fotografieren. Schwer zu rekonstruieren, wenn beide Protagonisten nicht mehr leben.
Stern gab die Bilder bei der Vogue ab. Zum ersten Mal überhaupt sollte Marilyn dort erscheinen– eine Seite. Vielleicht zwei. Die Bilder kamen gut an . Die Redaktion spürte, so intim und persönlich hat sie noch niemand fotografiert. Aber für die Vogue als das Modemagazin mussten Kleider und Schmuck in die Strecke. Kurz darauf folgte der ein Anruf bei Stern und der Auftrag für gleich mehrere weitere Tage im Bel-Air Hotel. Acht Seiten waren geplant, eine große Strecke. Für Stern der Ritterschlag.
Aber diesmal war alles anders: eine Entourage aus Stylisten, Maskenbildnern, Redakteuren. Eine riesige Auswahl an Kleidern. Und mittendrin Stern, der etwas ganz anderes wollte: sein Bild. Das eine, das sie unsterblich machen sollte. Und Sie.
Am ersten Tag: Marilyn kam, wie immer, Stunden später als verabredet. Champagner, Polaroids, erste Versuche. Sie lachte, spielte, entglitt. Stern tastete sich heran. Es entstanden unter Anderem die Schwarzweiss Aufnahmen von ihr in dem Rückenfreien Kleid, die ich so sehr mag.
Am zweiten Tag. Die Crew verließ die Suite, und plötzlich waren sie allein. Marilyn zog ihre Hausjacke aus und legte sich unter ein Laken. Wieder Intimität. Stern fotografierte sie – lachend, ernst, verletzlich. Aus dieser Phase stammt auch das Bild, das sie schlafend zeigt, der Kopf im Kissen, entspannt, ungeschützt. Später schrieb Stern, sie seien sich auch körperlich nähergekommen. . Er beschreibt wie es zwischen beiden so intensiv wurde, dass er fast zu einem Kuss kam, den sie ablehnte, nur um sich dann doch von ihm berühren zu lassen und dabei einschlief. Er schreibt, nur die Kamera hätte die beiden voneinander getrennt. Ob das stimmt, bleibt offen. Vielleicht soll diese Anekdote auch die Dramaturgie der Szene unterstreichen. Was bleibt ist das Bild der schlafenden Marilyn.
Marilyn, schlafend
Am nächsten Tag kam sie nicht. Kein Anruf, kein Termin. Stern wartete. Ein Bruch, als hätte sie die Regeln neu geschrieben.
Und schließlich das Grande Finale am letzen Tag. Das Bild, das er unbedingt wollte: Marilyn liegend auf dem Bett, von oben fotografiert. Kein Spiel mehr, keine Pose. Nur Klarheit und Verbindung zwischen Bert Stern und Marilyn Monroe. In Bildern, die er wie ein Vermächtnis festhalten sollte. Stern hatte jahrelang auf darauf hingearbeitet.
So rahmen sich diese Tage: vom ersten spontanen Nacktbild bis zum finalen Portrait von oben. Dazwischen Nähe, Distanz, Auslassungen. Drei Tage, die ein ganzes Spektrum an Gefühlen abbilden.
Nach dem Shooting
Für Stern war das Shooting vorbei, aber die eigentliche Arbeit begann erst. Über 2.700 Negative lagen vor ihm, Kontaktbögen voller Marilyn – lachend, ernst, müde, nackt, verhüllt. Tage und Nächte verbrachte er damit, zu sichten, zu markieren, zu verwerfen. Manche Negative hatte Marilyn selbst mit rotem Nagellack oder Filzmarker durchgestrichen oder mit einer Haarnadel durchstochen und unbrauchbar gemacht, als wollte sie noch einmal klarstellen wer die kontrolle hat, wenigstens im Nachhinein. Bemerkenswerterweise, ließ sie Bilder auf denen ihre Narbe unter ihren Rippen, die sie von einer Gallenblasen Operation hatte, durchgehen, während sie Aufnahmen auf denen ihre Liedstrich nicht perfekt war, zerstörte.
Dann das Warten. Stern erzählte, wie er Tage und Wochen auf den Anruf der Vogue-Redaktion wartete. Schließlich kam der Anruf und die Einladung zur Sichtung: eine streng begrenzte Auswahl. Aus den tausenden Aufnahmen druckte Vogue am Ende gerade einmal zwanzig über die Acht Seiten. Die Redakteure entschieden sich für eine klare Schwarzweiß-Strecke – elegant, ernst, fast streng. Keine bunten Experimente, keine Nacktaufnahmen. Es war eine sehr bewusste Auswahl: Marilyn als Ikone, nicht als Mädchen, nicht als Sexsimbol auf Abruf.
Das Timing war schicksalhaft. Während die Ausgabe in Druck ging, kam die Nachricht von ihrem Tod. August 1962. Was als Modegeschichte gedacht war, wurde ein Nachruf. Die Bilder bekamen eine Schwere, die Stern nie geplant hatte. Sie wurden eine Art Nachruf und Sterns bedeutendste Arbeit.
Nach dem Höhepunkt
The Last Sitting war Sterns Höhepunkt. Danach fotografierte er weiter – Elizabeth Taylor, Sophia Loren, Audrey Hepburn. Doch in den 1970ern passte sein Stil nicht mehr zur neuen, härteren Bildsprache. Dazu kamen Alkohol, Drogen, gescheiterte Ehen.
Er selbst sagte, er sei Marilyn nie mehr losgeworden. Diese drei Tage im Bel-Air wurden ein Fixpunkt. Ein Triumph, der für ihn zur Bürde wurde. Erst in den 1990ern, mit Retrospektiven und Neuauflagen, kam die Anerkennung zurück. In seinen letzten Jahren fotografierte er wieder – Stars wie Kylie Minogue, Kate Moss, Madonna.
Bert Stern starb am 26. Juni 2013 in New York City, 83 Jahre alt.
Was ich aus diesem Buch für mich gewann
Dieses Buch hat meinen Blick auf den Vorgang der Portraitfotografie verändert. Es hat mir gezeigt, dass Geduld wichtiger ist als Technik. Dass man warten muss, bis jemand eine Schicht fallen lässt. Norma Jeane und Marilyn – das war ein extremes Beispiel. Aber genau diesen Moment suche ich bis heute: wenn ein Mensch nicht mehr spielt, sondern wirklich da ist.
Ich erkenne mich in vielem wieder, was Stern beschreibt: den Weg bis zur Augenhöhe, das ständige Wechselspiel von David und Goliath, das Verständnis von Schönheit als Energie, nicht als Summe einzelner Merkmale. Den Unterschied zwischen dem Faktum Schönheit und der Phantasie davon. Das Denken in Bewegungen, in Filmen, aus denen man Standbilder zieht. Und die Schichten, die man Schicht für Schicht freilegt.
Ich habe aber auch Fragen. Wie wäre sie gealtert und wie hätte sie sich in den 70er/80er Jahren entwickelt? Wie hätte ich sie fotografiert? Hätte man heute überhaupt eine mehrtägige Session mit solch einem Superstar machen können? In einer Zeit wo alles so schnell gehen und so viel produziert werden muss. Was bedeutet “Nackt sein” heute?
Vielleicht ist das die eigentliche Lehre aus The Last Sitting: dass ein Portrait keine Pose ist sondern ein Fragment - ein Standbild des Erlebnisses mit einem Menschen. Vergangen, in dem Moment des Auslösens – und deshalb unvergesslich.
Marilyn im schwarzen Kleid mit Rückendekolleté