Fragments of Light Nº 12: Was einen Stil zusammenhält

Vor ein paar Wochen sagte mir jemand, mein Stil hätte sich verändert.
Mehr noch: dass meine früheren Bilder „mehr ich“ gewesen seien.
Das war (glaube ich) nicht mal als Kritik gemeint. Es kam eher beiläufig im Gespräch und damit traf er mich irgendwie. Nicht, weil ich mich angegriffen oder kritisiert fühlte. Sondern, weil die Frage zu etwas passte, die im Hintergrund meines Nachdenkens über Stil und Fotografie schon lange mitläuft.

Ich bin kein Philosophie Experte aber ich komme beim Denken über dies und das immer wieder in dieses Feld und stoße auf Geschichten an denen ich mich orientieren kann. Genau in diesen Tagen las ich zufällig wieder über das Schiff des Theseus. Eine dieser Geschichten, die man irgendwann mal hört, vergisst, und dann Jahre später an einem Abend wiederfindet weil sie einen ins eigene Leben und Denken passt.

Zur Geschichte über Theseus:
Sein Schiff wird über Generationen gepflegt. Jedes Mal, wenn eine Planke bricht, ersetzt man sie durch eine neue, aus demselben Holz. Über Jahrzehnte, über Jahrhunderte. Irgendwann ist kein ursprüngliches Stück mehr übrig, und dennoch sagen die Menschen: Das ist das Schiff des Theseus.
Später baut jemand aus den alten, gesammelten Planken ein zweites Schiff.
Nun liegen zwei im Hafen.
Welches von beiden ist das „echte“? Daran arbeiten sich Philosophen seit Jahrhunderten ab und kommen auf keine endgültige Antwort.

Einige sagen: Die Identität liegt im Material.
Andere: Sie liegt im ununterbrochenen Fortbestehen.
Wieder andere: Sie liegt in der Funktion.

Dann gibt es noch Heraklit, der meinte: Nichts bleibt. Alles fließt. Man steigt ja auch nicht zweimal in den gleichen Fluss.
Dann gibt es noch Platon, der sagte: Was zählt, ist die Idee hinter der Form.

Je tiefer ich mich darin vertiefte, desto mehr merkte ich, wie sehr das alles (auch) mit Fotografie zu tun hat.

Anna, 2018

Der Wandel kommt in kleinen Schritten

Wenn ich auf meine eigene fotografische Entwicklung blicke, sehe ich genau diesen Prozess:
Planke raus, Planke rein.
Kleine Umbauten, die sich im Moment kaum bemerkbar machen — aber rückblickend ganze Räume verändern. Wenn ich Vorträge halte und über (meine) Entwicklung spreche, kommen immer wieder mal Kommentare dazu. Man sähe eigentlich keinen Unterschied zwischen den Bildern von vor ein paar Jahren und denen von Heute.

Meine ersten Bilder in Schwarzweiß entstanden oft stark inspiriert von anderen Fotografen. Ich fotografierte erst viel später intuitiv, experimentierte wenig, verstand erst nach und nach wie ich Licht, Mensch und Moment zusammenbringe.

Später kamen andere Phasen:
ruhiger, klarer, mit mehr Raum zwischen mir und dem Motiv.
Dann wieder enger, direkter, fast schon körperlich nah mit gerademal einer Armlänge Abstand.
Und irgendwann Farbe, erst vorsichtig, dann selbstbewusst mit einer eigenen Rezeptur

Aber nichts davon war ein Bruch mit dem was mich davor begeisterte und inspirierte.
Es waren Übergänge, Umbauten, neue Planken für mein Schiff sozusagen. Ich baute auch neue Teile hinzu und entfernte Andere.

„Früher war dein Stil mehr du“ Ok, ich neige auch ein wenig zu Overthinking und an manchen Tagen verunsichern mich solche Aussagen auch.

Die Illusion des Originals

Stil ist für mich nicht etwas Festes, Unveränderliches.
Und wenn man lange genug fotografiert, merkt man: Das originale "Schiff" hat es nie gegeben.

Es gab immer nur Versionen. Schichten. Zeitpunkte. Und Jede mit ihren eigenen Bewegungen. Auf anderen Gewässern.

Stil ist weniger eine Identität als vielmehr eine Richtung.
Ein innerer Kompass. Eine Art Magnetfeld, das sich nicht austauschen lässt, egal wie viele Planken ersetzt werden.

Ich schaue auf andere Fotografen:

  • Bei Newton war es nicht die Technik, sondern seine Art, Körper zu choreografieren.

  • Bei Lindbergh war es dieses unerschütterliche Interesse am Menschen hinter dem Bild.

  • Bei Purienne ist es das Flüchtige, das Unvorbereitete, das wie ein roter Faden durch seine Arbeit geht.

Sie alle haben ihre Schiffe unzählige Male umgebaut. Aber der Kompass blieb derselbe.

Das zweite Schiff: Nostalgie und alte Phasen

Es gibt noch einen weiteren  Gedanken aus dem Theseus-Paradox und der begleitet mich besonders:
Was passiert mit den alten Teilen, nachdem man sie ersetzt hat?

Die Philosophen streiten hierüber:
Entsteht daraus ein zweites Schiff — eine Art Schattenversion des alten Ichs oder ist es das „echte“ Schiff?

In der Fotografie sehe ich dieses zweite Schiff oft in Form von Nostalgie.
Wir alle besitzen alte Bilder, alte Phasen, auf die wir zurückblicken und denken:
Da war etwas purer, unmittelbarer, freier. Es war so oder so.

Greta Louisa, 2019

Aber für mich ist das ein Irrtum.
Wir vermissen nicht die Bilder, sondern die Zeit, in der sie entstanden sind.
Die Version von uns selbst, die damals existierte.
Die Orte, die Menschen, der Blick, der noch nicht wusste, was er einmal wissen würde.

Dieses zweite Schiff ist wichtig aber nicht dazu da, wieder in See zu stechen.
Es ist ein Archiv.

Die Reise aber findet auf dem neuen Schiff statt und auf dem Nächsten.

Was bleibt im Bild bestehen?

Wenn ich mir die Philosophie zu Hilfe nehme,  unterscheidet sie grob drei Ansätze:

1. Materielle Identität

Ein Ding bleibt es selbst, solange seine Teile dieselben sind.
Übertragen auf Fotografie:
„Mein“ Stil als Summe der Mittel wie sie sich zusammensetzen aus meiner Kamera, der Brennweite, den Farbtönen und Werten, der Lichtsetzung usw.
Das wäre aber ein reduzierter Blick.
Denn wenn das wahr wäre, müsste man sagen: Ich mache heute andere Bilder — und damit andere Fotografie.

Aber ich glaube, das ist falsch.

2. Das Ununterbrochene  

Ein Ding bleibt es selbst, solange seine Geschichte nicht unterbrochen ist.
Das passt besser:
Ich habe nie aufgehört zu fotografieren oder meine Linie unterbrochen seit ich Portraits mache.
Auch wenn sich Farbe, Licht, Nähe, Rhythmus verändern habe ich mein Weg nicht abgerissen.

3. Funktionale Identität

Ein Ding bleibt es selbst, solange es seinen Zweck erfüllt.
Und genau hier beginnt es spannend zu werden: Was ist der „Zweck“ meiner Fotografie?

Ist es, Nähe herzustellen?
Ist es, Atmosphäre sichtbar zu machen?
Ist es, Menschen so zu zeigen, wie sie sich selbst nicht sehen können?
Ist es, um Emotionen einzufangen?

Mareen, 2019

Das bleibt einfach alles, auch wenn die Form wechselt.
Und genau das ist diese funktionale Ebene das, was meine Bilder zusammenhält. Auch, wenn sie sich äußerlich ändern

Wir selbst sind Schiffe

Die philosophischste Wendung dieses Paradoxons ist zugleich die persönlichste:
Wir alle sind selbst Theseus-Schiffe.

Unsere Körper erneuern sich.Unsere Erinnerungen verändern sich. Unsere Überzeugungen wachsen, schrumpfen, brechen auf. Was auch immer. Irgendwas passiert ständig.

Wir sind eine ununterbrochene Linie aus Erfahrungen und doch immer neue Versionen unserer selbst.

Und deshalb ist genau deshalb diese Bemerkung „Deine Bilder sind nicht mehr wie früher“ gleichzeitig richtig und falsch.
Natürlich; Weil ich nicht wie früher bin.
Natürlich; Ist mein Stil nicht wie früher. Wie könnte er? Warum sollte er?

Aber gleichzeitig:
Ich bin immer noch ich.
Und mein Stil ist immer noch ein Echo meiner selbst — nicht trotz der Veränderungen, sondern durch sie hindurch.

Identität ist kein statischer Ort. Sie ist ein Fluss. So wie es Heraklit sah.

Stil ist dieser Fluss, der sich mit jeder Kurve verändert, aber von derselben Quelle gespeist wird.

Das ist die schönste Form von Kontinuität, die ein Mensch, ein Fotograf, ein Musiker, haben kann.

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Fragments of Light Nº 11: 36 Aufnahmen – was wir verloren haben, als wir alles gewinnen konnten