Method Notes Nº 9: Bevor man es “analog” nannte

Es gibt Tätigkeiten, die sich technisch schneller verändern, als sich unser Verhältnis zu ihnen anpassen kann.
Fotografie ist eine davon.

Während Kameras immer präziser wurden, schneller, verlässlicher, allwissender, blieb eine Frage erstaunlich konstant:
Was passiert eigentlich zwischen Sehen und Auslösen?

Lange bevor ich dafür Worte hatte, war diese Frage bereits da.
Und lange bevor man Fotografie „analog“ nannte, war sie für mich einfach ein Zustand.

Vielleicht liegt es an auch einfach an meinem Jahrgang.
Ich habe Fotografie analog kennengelernt, ohne dass man sie so genannt hätte. Es war einfach Fotografie. So wie man Musik hörte, ohne sie als „analog“ zu bezeichnen. Man legte eine Schallplatte auf, später eine Kassette, irgendwann eine CD. Das Wort digital klang futuristisch, nach Zukunft, nicht nach Alltag. Ehrlich gesagt, lebte ich in einer Welt, in der man noch gar nicht wusste, was etwas digitales im Alltag überhaupt für einen Nutzen haben sollte.

Und ich erinnere mich noch gut an den Geruch von Chemie. Entwickler. Fixierer. Eigentlich mehr an den Mix dieser Gerüche. Siebte Klasse, Foto-AG. Ein Raum im Keller, der mir damals dieses besondere Gefühl gab, wenn das Licht umschaltete und es düster wurde. Wenn man sehen wollte, was man fotografiert hatte, musste man den Film entwickeln. Punkt. Das galt auch nicht als Kunst, nicht als bewusste Entschleunigung. Da wurde nichts hineininterpretiert. Es war einfach ein notwendiger Teil des Prozesses.

Rückblickend ist es merkwürdig, wie wenig Bedeutung man den Dingen beimisst, solange sie normal sind. Bis ich etwa 26 Jahre alt war, habe ich auf Film fotografiert. Immer aus einem besonderen Anlass. Nicht zum Shooten, wie es heute heißt. Reisen, Menschen im Leben, auf Feiern und Veranstaltungen. In Felswänden und Eisfeldern im Gebirge.

Mt Blanc Massiv, 1992

Der Bruch

Sehr viel später, nach einer längeren Pause, bin ich wieder in die Fotografie eingestiegen – und landete mitten in der digitalen Welt. Alles hatte sich verändert.

Zunächst war ich damit beschäftigt, die Technik und Software zu verstehen. Mit den Möglichkeiten, die damit kamen. Mit Schärfe, Auflösung, Pixeln. Mit dem Beherrschen und Optimieren. Ich wollte wissen, wie weit das alles geht, was machbar ist, wie viel Kontrolle man haben kann. Bildbearbeitung – und etwas ganz Spannendem: Looks.

Erst nach einer Weile Abstand wurde mir klar, dass ich dabei etwas vermisste. Nicht sofort und auch nicht bewusst. Eher wie ein leichtes Unbehagen, das sich erst bemerkbar macht, wenn man lange in sich hineinhört.

Oder wie bei Musik.

Ich lege gerne Schallplatten auf, obwohl es umständlich ist. Alle fünfzehn bis zwanzig Minuten muss man aufstehen, die Platte wenden, den Tonarm neu ansetzen. Und doch sitze ich neben meiner Stereoanlage dabei. Mit dem Cover in der Hand, dem Booklet, den Texten. Jeder Handgriff gleich – und trotzdem nie Routine.

Ich schreibe auch gern mit der Hand und lebe in Notizbüchern.
Ich schreibe Postkarten aus Hotels, kurze Briefe, Notizen, wenn mir jemand einfällt – im Café, an der Bar, auf dem Zimmer oder im Zug.

Das hat alles nichts mit Nostalgie zu tun – sondern mit Aufmerksamkeit.

Analog als Denkraum

Wahrscheinlich hat es deshalb so lange gedauert, bis ich explizit über analoge Fotografie gesprochen habe, weil es mir nie um das Material ging.

Analog zu fotografieren ist für mich eher ein Denkraum.
Kein technischer, aber auch kein fotografischer im engeren Sinne. Sondern einer, in dem sich etwas im Kopf verschiebt. Oder umschaltet.

Was passiert vor dem Auslösen, wenn nur sechsunddreißig Aufnahmen im Film sind?
Eigentlich nichts, denn natürlich gibt es Nachschub. Natürlich ist das rational keine echte Begrenzung. Und doch ist sie da, sobald der Film eingelegt ist.

Ich wundere mich jedes Mal, wie lange es dauert, diese sechsunddreißig Aufnahmen zu fotografieren.

Die Beziehung zwischen Absicht und Auslösen bleibt länger bestehen.
Der Blick hält länger aus.
Die Verbindung zum Motiv, zur Person, zum Moment wird nicht sofort gekappt.

Alles dauert länger. Und dadurch wird alles etwas tiefer.
Ich sehe länger hin – und dadurch übersehe ich besser, was nicht im Bild sein muss.

Viktoriia, Sardinien 2024

Nicht-Wissen und Entscheidung

Ein wesentlicher Teil davon ist das Nicht-Wissen.
Erst später zu sehen, was man fotografiert hat. Ob man überhaupt etwas hat. Ob es funktioniert hat.

Digital gibt mir sofortige Rückmeldung. Analog gibt mir keine.

Ich muss mit der Entscheidung leben, die ich im Moment des Auslösens getroffen habe.
Vor allem zeitlich.

Und diese Verschiebung verändert mehr, als man zunächst glaubt. Daher fotografiere ich nicht analog einfach nur wegen des Looks.

Spannungsfelder

Mich interessieren weniger die Systeme als die Spannungen zwischen ihnen. Bei vielen Themen. Aber die Spannungen zwischen digitalem und analogem Fotografieren sind besonders greifbar.

Digitale Perfektion steht menschlicher Unschärfe gegenüber.
Kontrolle dem Loslassen.
Die Möglichkeit zur Optimierung der Akzeptanz.

Das Analoge ist für mich kein Gegenentwurf im Sinne eines Statements. Es ist ein Korrektiv. Ein Gegengewicht. Etwas, das hilft, zu einer Art Basis zurückzukehren.

Ich sehe gern alte Filme und Fernsehserien, besonders aus den Achtzigern. Nicht, weil mir neue Serien nicht gefielen. Sondern als Erdung. Als Erinnerung daran, wie sich Zeit angefühlt hat, bevor alles permanent verfügbar, korrigierbar, beschleunigt war.

Aufmerksamkeit und Dauer

Wim Wenders hat einmal sinngemäß gesagt, dass ihn an der Fotografie weniger das Bild interessiert als die Aufmerksamkeit, die ihr vorausgeht.
Das Ausharren an einem Ort.
Das Verweilen, bis etwas beginnt, sich zu zeigen.

Viele seiner Fotografien wirken unspektakulär. Leere Straßen, Fassaden, Landschaften ohne Ereignis. Und doch sind sie dicht. Weil selten etwas darin passiert – und weil nichts forciert wird.

Fotografie wird bei Wenders zu einer Form des Wartens.
Zu einer Entscheidung, nicht sofort weiterzugehen.

Darin liegt für mich eine große Nähe zur analogen Fotografie.
Wegen der Dauer, die sie verlangt und nicht wegen des Materials.

Analoge Fotografie zwingt mich, länger zu “bleiben”.
Beim Sehen.
Bei der Entscheidung.
Beim Moment, bevor etwas festgehalten wird.

Perinne, 2022

Das Paradox der Echtheit

Interessanterweise ist das digitale Bild objektiv ja näher an der Realität.
Es ist schärfer, präziser, genauer.

Und doch empfinden wir das analoge Bild oft als „echter“.

Dabei ist es oft das Gegenteil:
Es ist weiter weg von dem, was tatsächlich vor uns war.

Aber es ist näher an dem, was wir fühlen wollten.
An dem, was wir im Moment des Fotografierens wahrgenommen haben.
An der Erinnerung, nicht an der Abbildung.

Für mich geht es in der Fotografie – wie in vielen anderen Dingen – weniger darum, wie etwas war, sondern darum, wie es sich angefühlt hat.

Kein Dogma

Ich fotografiere nicht viel analog.
Ich höre meist digitale Musik.
Ich arbeite digital.

Aber wenn ich einen Film einlege, bekommt dieser Akt ein Gewicht.
Wie ein Werkzeug in die Hand zu nehmen. Etwa einen Pinsel.

Es ist eine bewusste Entscheidung, Geschwindigkeit abzuschalten.
Nicht auf die Garantie zu bestehen, dass eines der vielen Bilder schon gut sein wird.

Interessanterweise finde ich dieses Gefühl manchmal auch mit einer alten, fast zwanzig Jahre alten Digitalkamera. Es geht also nicht um Chemie oder Material allein.

Es geht um die Entscheidung, nicht alles sofort zu wollen.
Nicht alles kontrollieren zu müssen.
Nicht endlos viele Varianten und Chancen zu haben.
Und nicht alles zu optimieren, nur weil es möglich ist.

Ich glaube, das ist auch der Grund, warum Fotografien, die aus Dauer entstehen, länger bei uns bleiben.
Weil sie uns Zeit lassen.

Der eigentliche Grund, warum analoge Fotografie für mich so eine wichtige Rolle spielt, ist nicht der Rückblick.

Sondern die Erinnerung daran, warum ich überhaupt angefangen habe.

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