36 Aufnahmen – was wir verloren haben, als wir alles gewinnen konnten

Ich erinnere mich an meine ersten Kameras.
Ich war vielleicht fünfzehn/sechzehn, und musste meine Eltern beknien, mir ihren Fotoapparat zu leihen, wenn ich mit dem Rucksack und dem Zug durch Europa reiste. Später, mit meinem eigenen Geld, kaufte ich mir die ersten eigenen Kameras – gebraucht, verkratzt, aber sie gehörten mir. Wenn ich ein Motiv sah, lief ich darum herum, suchte Winkel, wartete auf Licht. Es war eine Art positive Anspannung oder sogar Aufregung in mir. Jetzt verewige ich etwas. Verewigen…                   

Als ich begann, Kletterer und Bergsteiger zu fotografieren – am Fels oder auf den 4000ern der Alpen – kam ich mit Beuteln voller Filmrollen zurück. Fünf, zehn, manchmal fünfzehn. Sie hatten Gewicht. Aber eines, das man nicht wiegen konnte. Sondern in Bedeutung.
Jedes Bild war bewusst, jedes eine kleine oder große Entscheidung im Moment.

Neulich holte ich einige alte Dia-Kästen aus meinem Archiv. Ich legte sie in den Projektor, klickte mich durch Bild für Bild. Und ich erinnerte mich an jedes einzelne – an den Ort, das Licht, das Gefühl. Ich wusste noch, worüber ich mit den Bergsteigern oder den Menschen, die ich unterwegs irgendwo traf, sprach, oft mit Händen und Füßen, weil wir keine gemeinsame Sprache hatten.
Und jetzt?
Jetzt durchblättere ich meine digitalen Archive und verliere mich in der Masse. Ich sehe Bilder, und immer weniger Geschichten.

Perrine, 2020

Intention – das bewusste Sehen

Wenn ich früher einen Ort für ein Bild entdeckt hatte, blieb ich gerne dort, wenn das Licht vorbei war, auch wenn ich über Nacht im Schlafsack liegen musste, weil es keine Unterkunft in der Nähe gab. Ein Ort, der besonders genug war um ihn oder die Menschen darin zu fotografieren, war es wert, dort zu verweilen. Ich wartete auf Licht, Wetter, Bewegung – manchmal auf den Moment selbst.
Diese Langsamkeit schuf eine Verbindung.
Heute entstehen viele Bilder im Durchlauf: man trifft jemanden an einem Ort, baut auf, schießt, fertig. Zack, zack.
Produziert statt erlebt.
Aber das Sehen braucht Zeit. Und Achtsamkeit. Es gibt meiner Meinung auch einen Unterschied ob Jemand ein Motiv oder einen Moment festhalten möchte.

Präsenz – das Dabeisein

Nach einer langen Pause stieg ich 2007/08 wieder in die Fotografie ein – diesmal in eine Zeit der digitalen Möglichkeiten. Alles war schneller, glatter, technischer. Ich lernte Fotografen kennen, die mehrmals die Woche shooteten, manche sogar täglich.
Produzieren, nicht gestalten. Kilometer machen, statt Tiefe suchen.
Ich erinnere mich, wie befremdlich es war, diese Geschwindigkeit zu sehen – dieses Mehr an Output, das sich innerlich anfühlte wie ein Weniger. Man war ständig beschäftigt, aber selten berührt. Und wenn, dann eben nur bis zum nächsten Shooting.

Antizipation – das Warten hat einen Wert

Früher war das Warten Teil der Arbeit. Zwischen Aufnahme und Ergebnis lag Zeit.
Diese Lücke war nicht leer, sie war erfüllt – von Erinnerung, Erwartung, vielleicht auch von einer  gewissen Unsicherheit. Du hattest die Bilder im Kopf, spieltest sie durch, stelltest dir vor, wie sie wohl geworden waren. Ob du überhaupt das hast worauf du hoffst.
Wenn die Abzüge oder Dias dann endlich kamen, war das ein Moment. Man nahm sie in die Hand, man roch die Chemie, man sah die Farben – und erinnerte sich an das Gefühl, als man sie aufnahm.

Heute sehen wir das Bild in der Sekunde, in der wir es machen. Wir kontrollieren, löschen, korrigieren. Wir erleben das Ergebnis, bevor wir den Moment wirklich gespürt haben.
Das Warten hat uns gelehrt, uns zu erinnern. Jetzt vergessen wir im selben Atemzug, in dem wir aufnehmen.

Unvollkommenheit – die Sprache des Echten

Ich habe Jahre gebraucht, bis man meine Art zu fotografieren – das Unperfekte, das Unscharfe, das manchmal Schiefe – nicht mehr als Mangel sah, sondern als Handschrift.
Damals war das Korn keine Störung, es war Charakter.
Ein leichtes Verwackeln, eine zu dunkle Belichtung – das waren Spuren des Moments, keine Fehler.
Heute wird jedes Bild geglättet, entrauscht, perfektioniert. Aber Perfektion löscht auch Vieles aus der Erinnerung. Weil Erinnerung nie makellos ist.

Achtsamkeit – das Ritual

Es geht nicht darum, ob man Film oder Digital fotografiert.
Es geht um Bewusstsein.
Das Laden eines Films war früher ein Ritual. Heute kann es auch der bewusste Moment sein, in dem man die Kamera in die Hand nimmt und wartet, spricht, sich unterhält, umsieht in den Moment geht.
Jede Form des Fotografierens kann Achtsamkeit lehren, wenn man sie als Prozess begreift – nicht als Jagd nach Ergebnissen.
Die Kamera ist Werkzeug, aber auch Lehrer.
Sie zwingt uns, zu sehen.

Ich glaube, wir haben nichts verloren, was wir nicht zurückholen könnten.
Es braucht kein Vintage-Objektiv, keine Nostalgie. Nur die Bereitschaft, der Bedeutsamkeit wieder Bedeutung zu geben.
Fotografiere, als hättest du nur 36 Aufnahmen.
Nicht, weil du musst – sondern weil du willst, dass jede zählt.

Denn am Ende geht es nicht um Bilder.
Es geht um Erinnerung.
Und darum, wie viel von dir darin bleibt.

 

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