Die Zeit ist das Motiv
„Nichts ist so flüchtig wie die Zeit.
Schon verschwunden, in dem Moment, da man an sie denkt.
Nichts ist so ungleich verteilt wie die Zeit.
Für manche bleibt kaum ein Rest davon, für andere scheint sie unendlich.
Nichts ist so allgegenwärtig wie die Zeit.
Für die einen liegt sie fern zurück oder unerreichbar voraus,
für die anderen umhüllt sie das Hier und Jetzt.“
In der Fotografie erscheint Zeit meist nüchtern, reduziert auf Zahlen: ein Vierzigstel, ein Hundertstel, ein Zweihundertfünfzigstel. Doch hinter dieser Messbarkeit steckt mehr. Denn sie ist nicht einfach nur Maßeinheit.
Susan Sontag schrieb:
„All photographs are memento mori. To take a photograph is to participate in another person’s mortality.“
Jedes Bild trägt etwas Vergängliches in sich – und gleichzeitig eine Spur von Ewigkeit.
Meine Inspiration nährt sich oft aus der Vergangenheit, aus Filmen der Siebziger und frühen Achtziger, dem new american cinema: One Flew Over the Cuckoo’s Nest (1975), Taxi Driver (1976), Deer Hunter (1978), Apocalypse Now (1979) Und so weiter. Es war ein Kino, dass sich traute unvollkommen zu bleiben, direkt, verletzlich, Antihelden statt Helden und realismus statt Effekthascherei.
Doch es gibt auch eine andere, subtilere Quelle: Filme mit französischem Einschlag, wie Emmanuelle. Weniger wegen der Geschichten selbst, sondern wegen ihrer Bildsprache. Dieses Kino der 1970er brachte eine visuelle Poetik der Sehnsucht, Sinnlichkeit und Exotik hervor – ein Lifestyle-Versprechen, das in fernen Ländern spielte, von weichem Licht und einem leichten Glow getragen war und einen endlosen Sommer beschwor. Flache, vorhersehbare Handlungen an die man sich kaum zurückerinnerte aber das Gefühl, das blieb: Freiheit, Abenteuer, eine zeitlose Eleganz. Diese Ästhetik begleitet mich noch heute, fast unsichtbar verwoben in meinen Bildern.
Sylvia Kristel - Emmanuelle
Ebenso hat Musik ihre Schichten in meine Arbeit gelegt. Die Jahre Mitte der Achtziger bis Mitte der Neunziger waren meine prägendste Zeit. Selbst als Teenager, ohne eine Kamera in der Hand, haben Fotografien dieser Ära mich erreicht. Zunächst begleitet von der Musik von Sade, Robert Palmer, Brian Ferry / Roxy Music oder Simply Red und später in den Neunzigern mit ihrer eigenen Klangwelt von Nirvana und Pearl Jam über The Cure und Depeche Mode. Irgendwann dazwischen Oasis und Radiohead. Nordsterne für meine heutige Fotografie.
All diese Elemente finden ihren Weg in meine Arbeit. Ich versuche ich nicht nur ein Gesicht abzubilden und ein Portrait zu machen sondern eine Momentaufnahme einer Szene festzuhalten – so wie aus einem Film. Das warme Licht, das beiläufige Detail, die zufällige Geste: Sie tragen die Spuren jener filmischen Sehnsucht und Sinnlichkeit, die mich geprägt hat. Meine Bilder sind daher weniger Inszenierungen als vielmehr Räume, in denen etwas entstehen darf – wie ein Gespräch, das sich langsam entfaltet und das ich festhalte. Auf die Pausentaste drücke.
Ich erinnere mich an ein Shooting in einem alten Frankfurter Loft, im Spätsommer, kurz vor Sonnenuntergang. Das besondere Bild des Tages entstand nicht im geplanten Set, sondern in der Pause, als das Model barfuß am Fenster stand, die Haare kaum wahrnehmbar vom Wind bewegt. Ein Bruchteil einer Sekunde – und doch war darin all das eingefangen: Die Ruhe, Nostalgie, ein Hauch von Sinnlichkeit, ein in sich gehen. Das Nachhallen der Gespräche der vergangenen Stunden.
Auch die Zukunft spielt eine Rolle in meinen Bildern. Wenn ich fotografiere, sehe ich nicht nur, was im Moment sichtbar ist, sondern auch, was einmal sichtbar sein könnte – in fünf oder fünfzehn Jahren. Ich frage mich, wie das Bild gealtert sein wird, welchen Ton es dann tragen mag, ob es Nostalgie oder Gegenwärtigkeit ausstrahlen wird. Diese Vorstellung lenkt meinen Blick: Ich suche nach dem, was bleiben soll, auch wenn sich alles andere verändert.
So war es bei einer Porträtreihe in Istanbul, im Viertel Pera. Während ich fotografierte, empfand ich Ort, Zeit und das Model als etwas das ich in einer Zeitkapsel verstauen wollte und nicht einen Mood fotografieren. Als Zeugnis von etwas, das bald vergangen sein Wie eine Szene aus Once upon a time in America (1984) und trotzdem zeitlos bleibt.
Doch nicht nur die Vergangenheit sondern die Zukunft fließt ein. Ich schweife zwar oft in die Gegenwart zurück – in die kleinen, unscheinbaren Augenblicke aber stelle mir auch vor wie die Zeit aus einem Jahrzehnt auf diese szene zurückblickt.
Juliette - August ´25
Virginia Woolf schrieb:
„Time passes, yes. But time also remains.“
Zeit ist nicht nur Chronologie, sie ist auch inneres Erleben. Genau das zeigt sich in einem Shooting. Da ist nicht nur das Einrichten eines Sets, die Auswahl der Outfits oder das Geben von Anweisungen. Da ist auch das Dazwischen: Gespräche, Pausen, kleine Gesten. Elemente, die leicht übersehen werden, aber entscheidend sind, damit Vertrauen entsteht. Ohne sie bleibt ein Bild leer.
Ich denke an eine Serie von Schwarzweißportraits, bei der das eigentliche Bild nicht in der Pose lag, sondern im Moment nach einem Lachen. Für einen Sekundenbruchteil senkte das Model den Blick, ganz unbewusst. Nichts Inszeniertes – und gerade deshalb so echt.
So verdichtet sich alles – Inspirationen aus alten Filmen, Erinnerungen aus der Jugend, Projektionen in die Zukunft, das Hier und Jetzt einer Begegnung – in einem Bruchteil einer Sekunde. In einem Zweihundertfünfzigstel oder Hundertfünfundzwanzigstel.
Marcel Proust schrieb:
„Die wahre Entdeckung besteht nicht darin, neues Land zu finden, sondern es mit neuen Augen zu sehen.“
Am Ende bleibt jede Aufnahme eine Verdichtung von Zeit – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Bild. Und so fasse ich meine Idee von der Zeit in meiner Fotografie abschliessend zusammen:
Zeit ist nicht nur der Rahmen in der Fotografie. Sie ist ihr eigentliches Motiv.