Kairos – oder über das Warten bis etwas geschieht

Wann ist eigentlich der richtige Moment, um abzudrücken?

Die Frage der Fragen. Einen Hauch zu früh – und das, was entstehen wollte, ist noch nicht da. Einen Bruchteil zu spät – und es ist schon verschwunden.

Ich höre in meinen Gesprächen oft, dass das vermeintliche Gegenmittel gegen das Verpassen des Augenblicks das Dauerfeuer ist. Hundert Aufnahmen, aus denen man später „den Moment“ herausliest, wie eine Erinnerung, die man rekonstruieren oder erst nachschlagen muss.

Auch das ist ein Weg. Aber vielleicht ist es wichtiger, überhaupt erst den Unterschied zwischen Zeit und Zeitpunkt zu begreifen.

Die Griechen unterschieden zwischen zwei Formen der Zeit: Chronos und Kairos. Chronos ist die lineare Zeit, die wir messen können – Sekunden, Stunden, Jahre. Sie beschreibt den Ablauf, nicht die Bedeutung.

Kairos dagegen ist der Augenblick, der aus dieser Linie heraustritt. Ein Moment, in dem sich etwas verändert, weil es Gewicht bekommt - bedeutend wird.

 

Denn wer nur die Zeit sieht, sieht den Fluss der Dinge die passieren als eine Aneinanderreihung. Wer den Zeitpunkt erkennt, sieht das Innehalten. Er sieht voraus. Oder besser: Er sieht Es kommen.

Es - das ist der Augenblick, in dem sich etwas verändert – in einem Gesicht, in einer Geste, in der Stimmung innerhalb eines Raums. Vielleicht ist es ein Blick, der gerade kippt. Eine Atmung, der sich verändert. Ein Moment, in dem man spürt wie etwas beginnt zu vibrieren; oder bald nicht mehr. Dass etwas da ist, das gleich vergeht.

Ich erinnere mich an einen Moment, vor Kurzem, bei einem Vortrag. Ich sprach über meine Fotografie, las Passagen aus meinen Texten. An einer Stelle, bei der es um „das letzte, bis dann“ ging, plötzlich – aus dem Nichts – wurde ich emotional. In einem Augenblick zum nächsten suchte meine Hand Halt am Pult. Ich spürte, wie mir für einen Moment die Stimme entglitt. Eine unerwartete, unkontrollierte Kollision von Gedanken und Gefühlen. Ein Kairos-Moment – nicht im Bild, sondern im eigenen Körper.

 

Während ich versuchte, wieder in den Vortrag zurückzufinden, fragte ich mich: Wann habe ich das letzte Mal bei einem anderen Menschen festgehalten, was da gerade in mir passierte? Wann habe ich es überhaupt bemerkt?

 Meist übersieht man diese Momente. Weil sie nicht entstehen dürfen – nicht zwischen Anweisungen, Small Talk, Routine. Weil man damit beschäftigt ist, den Fluss zu halten, Ordung zu wahren, Lockerheit zu spielen. Dabei liegt genau da, in dieser feinen Schwelle zwischen Kontrolle und Loslassen, der Kairos: der Moment, in dem etwas sich zeigt, was so nicht geplant war. Nicht planbar war.

Vielleicht ist ja das, was wir als Intuition in der Fotografie bezeichnen, genau diese Fähigkeit, Kairos zu spüren.

Denn er zeigt sich nicht, wenn man ihn einfach nur abwartet. Er erscheint, wenn das Sehen nicht mehr überlagert wird vom Denken.

Ich beobachte oft, wie viele Fotograf:innen versuchen, ihre Arbeit zu sehr zu erklären oder zu verkaufen – zu beweisen, dass sie fotografieren.

Dann wird über Technik geredet, über Schärfe, über Lichtsetups – selten über das, was wirklich passiert. Und irgendwann wird aus der Begegnung ein Ablauf: “Lach mal”. Oder noch schlimmer: “Kannst auch gerne weinen”. Es sind diese breit gestreuten Anweisungen, die das Echte überdecken und nur Rollen erzeugen. „Jetzt sei mal ganz emotional”. Wie, welche, warum? Wenn etwas entsteht, dann hier – in diesem Raum, in diesem Moment, zwischen uns. Alles andere ist ein Schauspiel.

Natürlich kann man Emotionen inszenieren, sie nachstellen, sie synthetisieren. Es ist nur eine Frage des Anspruchs. Möchte ich ein handgemachtes Stück, das maßgefertigt und einer individuellen Idee entsprungen ist, oder ein Produkt von der Stange? Möchte ich den selbstgebackenen Kuchen, das Einzelstück, die Reise, die niemand vorher erlebt hat – oder den Pauschalurlaub?

 Ich glaube, man kann lernen auf den Augenblick zu warten, in dem sich etwas öffnet. Das ist kein technischer, sondern ein innerer Moment. Eine Sekunde des Einverständnisses zwischen zwei Menschen, zwischen Kamera und Gegenüber. Wenn man dann auf den Auslöser drückt, ist es weniger eine bewusste Entscheidung als ein intuitiver Reflex – ein „Ja“ zum Augenblick.

Oft ist das, was wir im Bild festhalten, gar nicht das, was wir bewusst gesucht haben, sondern das, was sich in diesem Moment gezeigt hat – ungeplant, echt, ungeschönt. Manchmal entsteht das Wesentliche genau dann, wenn wir aufhören, es zu erwarten. Man muss es einfach mal wagen.

Es liegt vielleicht darin der wahre Kern von Fotografie – dass sie uns lehrt, offen zu sein, bis etwas geschieht. Nicht, weil wir es erzwingen, sondern weil wir bereit sind, es zu anzunehmen auch, wenn wir eigentlich auf etwas anderes gewartet haben. Manchmal genügt ein Blick, eine kleine Bewegung, eine Intuition.

Und dann weißt du: Jetzt.

Weil es perfekt ist, so wie es ist.

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Die Zeit ist das Motiv