Mit leerem Boot zurück – über Fotografie und die Kunst des Aushaltens
Seit einer Weile finde ich langsam wieder meinen Weg zur Literatur. Oder vielleicht findet sie den Weg zu mir. Wie das so ist, entwickelt man dabei auch Vorlieben. Bei mir sind es die Werke der literarischen Moderne. Hemingway, Joyce, Woolf – jeder auf seine eigene Weise.
Mich faszinieren nicht nur ihre Geschichten, sondern auch, wie unterschiedlich sie erzählen. Die klare, schnörkellose Sprache von Hemingway. Seine Themen: Mut, Verlust, Würde. Oft mitten im Angesicht von Naturgewalten oder Krieg. Dann Woolf – ihr Bewusstseinsstrom und ihr poetischer Blick. Wie sie das Fließen der Zeit spürbar macht, finde ich einfach wundervoll. Wie subjektiv unsere Wahrnehmung ist, besonders heute, wo alles schneller, lauter, überlagert wird. Und Joyce. Sein komplexes Spiel mit Sprache, die inneren Monologe, die Details, der Irrsinn des Alltags. Ulysses steht seit fünfzehn Jahren in meinem Regal. Ein Drittel habe ich geschafft. Danach beginnt man von vorn, mit einer anderen Lesestrategie. Man verliert sich – vielleicht muss das so sein.
Hemingway ist mir am nächsten. Vielleicht, weil ich seine Klarheit mag. Die Ruhe zwischen den Zeilen. Die Entschiedenheit seiner Figuren. Vielleicht auch, weil seine Geschichten am leichtesten für mich zu lesen sind, aber sehr tief wirken.
Neulich sprach ich mit jemandem über Der alte Mann und das Meer. Über Santiago, seinen Kampf auf dem offenen Meer. Und plötzlich kam die Frage auf, ob es Parallelen zu meinem Erleben in der Fotografie gibt?
Ich habe zuerst gezögert. Ich selbst sehe mich nicht als Santiago. Aber ich kenne Fotografen, die ihm ähneln. Menschen, die reduziert leben – nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Überzeugung. Die sich bewusst dem Einfachen aussetzen. Die in Kauf nehmen, dass das unbequem ist.
Auch, wenn die Fotografie selten so existenziell wirkt wie ein Kampf auf hoher See, gibt es Ähnlichkeiten.
Santiago lebt fast wie ein moderner Eremit. Einfachheit. Armut. Kein Selbstmitleid. Nur Erfahrung, Stolz, Handwerk, eine tiefe Ruhe. Und das Meer, das ihn formt.
Ich sehe das bei manchen Fotografen wieder. Menschen, die jahrelang an einem Projekt arbeiten, ohne sicheren Ausgang. Die den Mainstream meiden, obwohl es leichter wäre. Die Ablehnung kennen, Ignoranz, Spott – und trotzdem ihrer Linie treu bleiben. So wie Santiago, der am Ende mit leerem Boot zurückkehrt. Gezeichnet. Müde. Und doch mit Stolz.
Es gibt diesen Satz:
"Ich wünschte, der Junge wäre hier."
Selbst die Stärksten brauchen Begleitung. Auch das kenne ich aus der Fotografie. Viele geben sich unabhängig, fast unnahbar. Aber oft tragen sie die Last allein. Unterstützung ist selten. Vielleicht, weil alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Vielleicht, weil jeder seinen eigenen stillen Kampf führt.
Ich habe das oft beobachtet. In Gesprächen mit Kollegen, auf Ausstellungen, in Treffen, in ruhigen Momenten nach einem Shooting. Die Unsicherheit schwingt mit. Die Frage, ob das, was man tut, genügt. Ob es gesehen wird. Ob es bleibt.
In meiner eigenen Arbeit gab es Momente, die sich ähnlich anfühlen. Kein Kampf gegen Wind und Wellen, aber gegen Zweifel, Müdigkeit, das zähe Ringen um Bedeutung. Manchmal arbeite ich wochenlang an einem Projekt, suche Bilder, die etwas erzählen – und komme mit nichts zurück. Zumindest äußerlich. Kein fertiges Bild. Kein sichtbares Ergebnis.
Aber innerlich bleibt etwas. Erfahrung. Konzentration. Die Fähigkeit, den leeren Raum auszuhalten. Das gehört dazu. Vielleicht ist es das, was Hemingway meint, wenn er von Würde spricht.
Santiago verliert den Kampf. Der Fisch wird von den Haien zerfressen. Er kehrt zurück, ohne Beute. Aber er kehrt zurück. Aufrecht. Und in seiner Logik nicht als Verlierer.
Auch in der Fotografie zählt nicht nur das Bild. Sondern der Weg dorthin. Die Beharrlichkeit. Die Art, wie man mit Rückschlägen umgeht. Ob man zurückkehrt. Ob und mit welcher Haltung man die Kamera wieder in die Hand nimmt.
Und dann gibt es noch etwas, das mich an Santiago erinnert: Seine Ausrüstung. Nichts daran ist modern. Sein Boot ist alt. Die Leinen abgenutzt. Die Segel geflickt. Es wirkt fast, als wäre er falsch ausgerüstet für das, was ihn erwartet.
Aber hätte es einen Unterschied gemacht? Ein neueres Boot? Mehr Technik? Mehr Seile, größere Netze? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Ich kenne diesen Gedanken. Auch in der Fotografie glauben viele, mehr Ausrüstung würde mehr Sicherheit bedeuten. Mehr Brennweiten, mehr Kameras, mehr Zubehör. Aber am Ende bleibt es dabei: Du stehst da. Allein. Mit deinem Blick. Mit deiner Erfahrung. Mit dem, was du tragen kannst. Mehr nicht.
Ich habe gelernt, mit wenig gut umzugehen. Ein Apparat. Eine Linse. Vielleicht zwei. Nicht, weil es bequem ist. Sondern, weil es reicht. Wenn man weiß, was man tut. Wenn man das Meer kennt. Wenn man die Kamera kennt.
Und selbst dann gibt es keine Garantie. Auch Santiago hatte keine. Nur seine Hände. Sein Wissen. Seine Ruhe.
Vielleicht liegt genau darin die stille Würde dieser Arbeit. In der Reduktion. Im Vertrauen auf das, was bleibt, wenn alles Äußere wegfällt.
Und vielleicht reicht das.